Leon Weintraub hat Auschwitz und den Todesmarsch knapp überlebt. Doch auch nach dem Kriegsende führt er einen Kampf gegen Antisemitismus.
Der Grabstein hätte für ihn sein können.
Leon Weintraub hebt einen kleinen Stein vom Boden auf und legt ihn oben auf den schlichten, dunklen. Auf einen Trauerstein. Er steht im Konzentrationslager Auschwitz. Wenige Meter neben den Ruinen der Gaskammer erzählt er nüchtern von den Machenschaften der SS-Männer, die Juden wie ihn bis 1945 systematisch getötet haben. Bis zu 6000 Menschen fanden hier jeden Tag den Tod.
Vielleicht dauert es mehr als ein Menschenleben, das Warum erklären zu können. „Ich habe das so hingenommen, dass die Deutschen uns verfolgt haben“, sagt er heute. Antisemitismus kennt er schon sein ganzes Leben lang und er begegnet ihm noch heute. Es ist für ihn nicht mehr die Frage nach dem Warum, sondern: Wie geht man damit um?
Leon Weintraub, 90, klein, mit kräftigem weißem Schnauzbart, immer in Anzug und mit Fliege, erinnert sich daran, als junger Bursche in der Straßenbahn gefahren zu sein. Ein Kind hinter ihm weint. Die Mutter sagt: „Wenn du nicht aufhörst zu weinen, dann nehmen dich die Juden zur Matze“. Das Gerücht, dass Juden kleine Kinder töten und verzehren, ist damals weitverbreitet. Er dreht sich zur Mutter um und erwidert: „Liebe Frau, das Pessach ist erst in sechs Wochen. Warum machen Sie dem Kind denn jetzt schon Angst?“
Leon Weintraub wird 1926 als fünftes Kind geboren. Sein Vater verstirbt ein Jahr darauf. Er wächst mit seiner Mutter und vier Schwester im polnischen Łódź auf und lebt im südlichen, dem jüdischen Stadtteil. Zwei Zimmer, kein Platz, keine Ruhe zum Lesen. Er liest gerne, vor allem Bücher über Abenteurer. Er ist lieber in der Schule als zuhause. Er wechselt auf das Gymnasium und deutsche Truppen marschieren in seine Heimatstadt ein.Seine Kindheit erzählt er mit vielen Details, fast akribisch. Seine Kindheit ist dann vorbei.
Erst verhängen die Deutschen eine Ausgangssperre für Juden. Noch zu Jahresende siedeln sie alle in das Ghetto im Norden der Stadt, erinnert er sich. Die Weintraubs laden ihr Hab und Gut in einen Holzkarren und schieben ihn die spätere Hitlerstraße in Richtung Norden.
Der Gauinspektor Friedrich Uebelhoer sagt zu dieser Zeit: „Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Endziel muss jedenfalls sein, dass wir diese Pestbeule restlos ausbrennen.“ Die Weintraubs sind Teil dieser Pestbeule. Leon Weintraub darf nicht mehr zur Schule, sondern wird Betrieben zugeteilt. Er lackiert Tausende Metallringe – zwölf Stunden, Tag für Tag.
Als er ein Feuer entfacht, wird er für die Bleche eingeteilt. Er biegt das Metall mit bloßen Händen. Sie schmerzen, das Metall schneidet in die Haut, die Wunden eitern. Ab 1942 muss die jüdische Verwaltung Tausende ihrer Leute ausliefern. Kranke und Alte sollen sich freiwillig melden. Die Juden hoffen, sie können so die anderen zu retten. Die meisten sterben 70 Kilometer entfernt im KZ Kulmhof. Familie Weintraub versteckt sich.
An einem Sommertag 1944 durchsuchen Soldaten wieder einmal Wohnungen. „Diesmal erschießen wir jemanden“, rufen sie. Bevor etwas passiert, ergibt sich Leon Weintraubs Mutter den Soldaten. Leon, seine Mutter, seine Tante und zwei Schwestern werden nach Auschwitz transportiert. Zum Arbeiten wird ihnen gesagt. Sie packen nur das Nötigste ein.
Als der Zug nach drei Tagen mitten im Konzentrationslager Auschwitz auf der „Judenrampe“ hält, beginnt das Chaos. Er klammert sich an seinen Rucksack, in dem er auch seine Bücher hat. Den brauche er hier nicht, ruft man ihm im Geschrei zu. Als er die Zäune mit Stacheldraht und Stromleitungen sieht, wird ihm klar: Man hat sie belogen. Schockiert stellt er fest: „Das ist ein Ort zum Sterben.“
Er winkt seiner Mutter und seiner Tante zu und ruft: „Wir treffen uns drinnen“. Dann verliert er alle aus den Augen. Der Lagerarzt erklärt ihn für arbeitsfähig. Seine Sachen landen auf einem riesen Haufen an Habseligkeiten, die die Nationalsozialisten später systematisch ordnen. Alles Material wird gebraucht. Seine Mutter und seine Tante müssen direkt in die Gaskammer. Das bedeutet den Tod durch Zyklon B, das als Schädlingsbekämpfungsmittel gedacht war. Gemäß der NS-Ideologie wird es genau dafür benutzt.
Heute stehen Grabsteine neben den Ruinen der Gaskammern. Sie erinnern an Millionen Menschen, die dort systematisch getötet wurden. Wo ihre Asche liegt, das weiß niemand. Viele Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz steht er wieder auf dem Boden, der durchtränkt ist von dieser Asche. Auch die seiner Mutter und Tante. Es ist der größte Friedhof aller Zeiten, ein Ort des Todes. Für Leon Weintraub ist es der Ort, an dem er das Mensch-sein verlor. Als der SS-Lagerarzt ihn für arbeitsfähig erklärt, geht es in die „Sauna“. „Alles was wir hatten, mussten wir abgeben“, sagt er. Schmuck, persönliche Andenken, Kleidung, Würde. Nackt gehen sie von Raum zu Raum. Sie duschen unter den Augen der SS-Leute. Der Kopf wird geschoren, der Körper enthaart. Alles muss schnell gehen, sein Körper blutet und brennt wegen den vielen Schnittwunden.
Der Verlust seiner Familie und die Entwürdigung setzen ihn unter Schock. Wochenlang ist er apathisch, nimmt nichts wahr, spricht mit niemandem. Über die Zeit im Lager spricht er nicht viel. Weil er sich kaum erinnert, sagt er. Womöglich will er sich nicht erinnern. Viele Überlebende haben ihre Erlebnisse nie wirklich erzählt, nicht einmal der eigenen Frau oder den Kindern. Andere haben Jahrzehnte gebraucht, um über das Leid und die grenzenlose Demütigung unter den Nationalsozialisten sprechen zu können.
Heute sagt er, er habe es geschafft. „Ich sehe mich nicht als Opfer, ich sehe mich als Sieger“, sagt Weintraub selbstbewusst. 2014 war er in Nürnberg. Ein Fotograf macht ein Bild, dass Weintraub auf dem Zeppelinplatz. Genau dort hatte Hitler die Massen begeistert, sie auf den Krieg eingeschworen, gegen Juden gehetzt. In diesem Moment dachte sich Weintraub: „Ich bin hier und du nicht mehr.“
Er kommt in Block Nr. 10. Der Zigeunerblock. Als Leon Weintraub eines Tages zwischen Block 16 und 18 nackte Männer sieht, traut er sich, sie anzusprechen. Sie würden zur Arbeit abgeholt und müssten raus aus dem Lager. „Raus“. Das ist sein Signalwort. Er wirft seine Kleidung in die Ecke und stellt sich zu den Anderen. Er entkommt Auschwitz und damit dem sicheren Tod.Ein anderer Häftling wird ihm viele Jahre später erzählen, dass alle Insassen seiner Baracke nur wenige Tage später vergast wurden.
In den nächsten Monaten bringt man ihn nach Wüstegiersdorf, Groß-Rosen, Flossenbürg und Offenburg. Immer weiter Weg von der Front, die seine Rettung bedeuten würde. Im Winter trotz er der eisigen Kälte, bei der Arbeit im Außenkommando oder während des Todesmarsches. Nagender Hunger quält ihn, die stetige Erschöpfung ist gefährlich. Es ist die Gegenwart des Todes. Ringsum sterben die Häftlinge an Kälte, Hunger oder Fieber und Typhus. Immer wieder wacht er neben eiskalten Körpern auf. Aber nicht, weil es Winter ist.
Als er eines Tages wieder im Zug abtransportiert wird, gerät dieser unter Beschuss der Alliierten. Er nutzt die Chance und flieht mit einigen anderen. Er läuft durch den Wald und trifft auf französische Truppen. Nach mehr als 1635 Kilometern bewahren ihn nur wenige Schritte erneut vom Tod. Der Zug, in dem er sich befand, sollte eigentlich im Bodensee versenkt werden. Sein Krieg ist in Konstanz zu Ende. Der Kampf im Inneren noch nicht. Mit einigen anderen Juden geht er nach Konstanz und dort sofort in die Bibliothek. Er verliert sich in Büchern.
Durch Zufall hört er, dass seine Schwestern noch leben. Sofort macht er sich auf die Reise nach Bergen-Belsen. Dort trifft er Lola, Franka, Mala – seine Schwestern. „Das war der erste Schritt, um wieder Mensch zu werden“. Von seiner Familie, etwa 80 Verwandte, haben 16 überlebt.
Nach dem Kriegsende will er Medizin studieren. Über Kontakte bekommt er ein Gespräch mit einem Göttinger Professor. Unmöglich sei das, versicherte man ihm. Ganz ohne Voraussetzungen, nicht einmal Abitur hat er. Er behält seinen Willen und überzeugt den Professor, ihn für ein Semester einzuschreiben. Das sei vielleicht naiv gewesen, aber er sei eben Optimist. Er studiert intensiv. Sein Abitur holt er innerhalb eines Sommers nach. Acht Prüfungen stehen ihm bevor – er besteht alle. Sein Thema im Fach Deutsch: „Was treibt Menschen zur Arbeit?“.
Nach seinem Studium kehrt er zurück nach Polen, wird Oberarzt der Gynäkologie. Alle seine Mitarbeiter sind gleichberechtigt. Von Hierarchie hält er nicht viel. Seine Klinik erlangt einen exzellenten Ruf, sagt er. Der Gesundheitsminister will ihm ein höheres Budget zusichern. Es läuft gut. Dann wird er denunziert.
Angeblich habe er illegal Patienten aus anderen Kreisen behandelt und das Gesundheitssystem betrogen. Empört schreibt er Brief um Brief, um sich zu verteidigen. Die Briefsammlung nennt er „Mein Kampf“. Später bestätigt man ihm offiziell, seine Arbeit habe keinerlei Zweifel zugelassen. Doch zu diesem Zeitpunkt packt Leon Weintraub schon seine Koffer. „Ich beurteile Menschen nicht nach Worten, aber nach Taten“, sagt er.
Jahrzehnte nach dem Holocaust ist es noch immer ein Nachteil, Jude zu sein. Den aufkommenden, antisemitischen Stimmungen will er, der gekommen war, um auch sein Polen wieder aufzubauen, sich nicht beugen. Er wandert nach Stockholm aus, wo er auch heute noch wohnt.
Drei Mal in seinem Leben habe er jemandem ins Gesicht geschlagen, erzählt Weintraub, der das Wort Hass nicht ertragen kann. Einmal versucht ein Kommilitone, seine Frau aufzuklären, dass ihr Mann ein Jude sei. Weintraub steht auf und meint, er solle sich dafür schämen. Später kommt der Kommilitone bei ihm vorbei und besteht darauf, dass Weintraub sich bei ihm entschuldigen soll. Leon Weintraub drückt ihn gegen die Wand, ist außer sich vor Wut und schlägt zu.
2005 besucht er Polen zusammen mit Freunden. Auf einem Platz sieht er junge Polen mit Transparenten demonstrieren. „Polen soll kein zweites Palästina werden“ steht auf dem Plakat. Weintraub nähert sich den Jungen, erklärt er sei Jude und sie sollen doch damit aufhören. Sein Gegenüber spuckt ihm ins Gesicht. Dann bekommt der Junge die harte Antwort zu spüren. Ein Schlag.
Er lässt sich nicht mehr alles gefallen. Er muss sich nicht mehr alles gefallen lassen. Nicht mehr.
Der Text ist im Rahmen einer internationalen Begegnung zwischen Nachwuchsjournalisten und Zeitzeugen entststanden. Die Begegnung fand anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung vom Konzentrationslager Auschwitz statt und wurde vom Maximilian Kolbe-Werk organisiert.
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